Der zweite Besuch in Calais innerhalb von zwei Jahren. Beim ersten Mal hatte ich nur kurz Zeit, deshalb war es dieses Mal gut etwas länger zu bleiben.
Calais ist eine sehr interessante Stadt an der Côte d´Opale im Norden Frankreichs. Hier wird nicht nur seit Anfang des letzten Jahrhunderts der legendäre Stabilbaukasten hergestellt, sondern es gibt auch weitere Verknüpfungen mit dem nur 48 km entfernten England, wie z.B. die Spitzenmanufaktur. Doch hiervon berichte ich später. Außerdem ist nicht nur den kunstinteressierten unter uns die berühmte Plastik von Auguste Rodin ein Begriff – „Die Bürger von Calais„.
Ursprünglich lebten die Menschen in Calais von der Fischerei, der Textilverarbeitung und der Schifffahrt. Heutzutage verlegt man sich mehr auf den Tourismus und es reisen jährlich ca. 30 Mill. Menschen durch Calais.
Starten wir mit der Street Art chronologisch und beginnen mit der ältesten Arbeit, die ich finden konnte:
Banksy
Seit 2015 stranden tausende geflüchtete Menschen in Calais, auf dem Weg nach England. Der „Dschungel von Calais“, eine Art Camp im Osten der Stadt, bestand aus provisorischen Hütten. Hier fanden sich Menschen ein, die versuchten und versuchen auf menschenunwürdigen und gefährlichen Wegen nach England zu kommen. Der „Dschungel“ wurde irgendwann abgerissen, ist aber bis heute ein Begriff. Die Menschen versuchen die Flucht durch den Tunnel, auf LKWs, Zügen und sogar mit Schlauchbooten… Grauenhaft! Auch bei unserem diesjährigen Besuch in der Stadt sind uns viele Menschen aufgefallen, bei denen wir vermuteten, sie seien obdachlos, auf der Durchreise, auf der Suche nach einem neuen Leben.
Im Dezember 2015 soll Banksy an den französischen Küstenort gekommen sein. Er hat drei Stencils gesprüht. Die beiden anderen sind nicht mehr erhalten, aber dieses hier, an der Erste-Hilfe-Station am Strand, wurde zügig mit Plexiglas geschützt und für erhaltenswert erachtet. Es zeigt ein Kind mit einem Teleskop, auf dem ein Geier sitzt. Es scheint Richtung England, oder vielleicht in Richtung Zukunft zu schauen. Der Geier symbolisiert die große Gefahr, der sich die Menschen auf der Flucht aussetzen müssen. Dramatisch!
Les 100 murs pour la jeunesse
2017 beteiligte sich Astro mit einer 150 m langen Wand an dem Projekt „Les 100 murs pour la jeunesse“, das 2016 ins Leben gerufen wurde und mit dem C215 in Sarcelles startete.
Jam Etend’Art
2020 fand das erste Street Art Festival, Jam Etend’Art, in Calais statt. Dabei war der ortsansässige Artist Vyrus, der das Festival organisierte und kuratierte. Bei diesem Festival entstanden auch viele spektakuläre Graffiti u.a. am Skatepark in Calais.
Der Drache von Calais des Künstlers François Delaroziere und seines Teams „La Machine“ ist ein monumentales Kunstwerk aus Stahl und Holz. Es bewegt sich fauchend und schnaubend über die Strandpromenade und bietet bis zu 48 Personen + einem Menschen im Rollstuhl Platz. Wir haben das Ungetüm nicht gesehen – vielleicht ist es weggeflogen oder musste mal geölt werden?-aber Vyrus hat es zur Vorlage seines Murals gemacht.
Swed
SWED brachte im Juli 2020 den 52 jährigen Michel, auch „L’Beurre“ genannte, im Halbportrait an die Wand. Swed_oner, aka Mathieu Taupenas stammt aus dem französischen Süden und lebt in Uzèz. Er hat in den letzten Jahren häufig Menschen portraitiert, die eine besondere Lebensgeschichte haben, oder ohne Obdach sind. Diese Menschen sucht und findet er in der Umgebung der Wand, an der er malen will. Häufig entstehen in diesem Zusammenhang Fotos, auf denen die „Modelle“ vor dem Mural posieren.
Maye, Koga.one und Hopare
Im August 2020 entstand das Mural von Koga.one, aka Matthieu Koga. Und wenn man sich das Mural von Maye ansieht ist ein Hinweis auf Jace zu finden. Auch Hopare war zu diesem Zeitpunkt beim Festival.
Syro portraitierte im selben Monat Arianne Layer und kehrte im folgenden Jahr auf Einladung von Vyrus nach Calais zurück, um am Blériot-Plage, der zu dem westlich gelegenen Ort Sangatte gehört, auf einen der zerfallenen und aus dem 2. Weltkrieg stammenden deutschen Bunker zu malen.
K.Yoô und Arno Lebreton
K.Yoô malte eine Hommage an die Möve. Sie sagt: „Eine keltische Legende besagt, dass die Silbermöwe die Seele von Kapitänen und Seeleuten darstellt, die auf See verloren gegangen sind. „Wenn einer von ihnen am Bug Ihres Bootes landet, verjagen Sie ihn nicht, sonst wird Ihnen und Ihrem Boot Unglück widerfahren.“
Der Stencilartist Arno Lebreton nennt sich auch Black Salamander.
Jace
Jace soll 1973 geboren worden sein und seit seiner Kindheit auf Réunion leben. Als Graffiti-Writer begann er 1989, angeblich nachdem er das Buch „The Subway Art“ von Martha Cooper und Henry Chalfant entdeckt haben soll. Er entwickelt die Figur „Gouzou“, die ihn seitdem begleitet. 2020 bemalte er zwei sich gegenüberliegende Wände einer Unterführung in Calais und offensichtlich hat er sich, wie ich, auch in den Dünen auf den alten Bunkern herumgetrieben.
NeSpoon
NeSpoon erhielt auf Einladung des Museums „Cité de la Dentelle et de la Mode“ 2020 die Möglichkeit, die Fassade des Hauses aus dem 19. Jahrhundert „einzukleiden“. Zur Geschichte: Die Spitzenmanufaktur begründetet sich durch britische Arbeiter, die Anfang des vorletzten Jahrhunderts entsprechende Maschinen über den Ärmelkanal schmuggelten. Die Spitzen-Herstellung florierte zunehmend, sodass schließlich phasenweise bis zu 20000 Menschen damit beschäftigt waren und Spitze aus Calais weit über die Stadtgrenzen bekannt wurde. NeSpoon greift mit ihrem Mural eines dieser alten Muster auf. Das erste Foto ist von der anderen Seite des Quai de l´Yser aus gemacht und das zweite zeigt ein Stencil von No One das sich unter dem Mural von NeSpoon befindet.
Atelier du Graff, 2eme edition
2Flui, Aéro, BK Foxx, Braga Last One, EAJ, Emoy, Flow, Ibaat, Marko93, Nikita, Rooble, Sock, Stom500, Sweo, Theo Haggai und XKUZ waren die Artist vom Festival „Atelier du Graff“ 2021.
Gefunden und ausgewählt sind hier die Murals von
Aero, Jean Robble, XKUS, Braga Last, Tom Wild Sketch, Emoy und BKFoxx
Aero aka Creaero, BKFoxx und Tom Wild Sketch, aka Sock, nahmen sich den maritimen Themen Calais´ an.
Robble, XKUZ, Braga Last und Emoy
Jean Robble, der für seine hyperrealistischen Murals bekannt ist, betitelt dieses „Human“. Das abstrakte Mural stammt von Fabien Mazé, aka Xkuz, der sich nach 15 jährigem Graffiti Writing dem Abstrakten zugewandt hat. Braga Last lässt gern Leute hervorschlüpfen, was ihm auch hier meisterhaft gelungen ist. Emoy, der häufig mit seinen Graffiti auch ziemlich spaßig unterwegs ist, beschert uns eine besondere Ansicht auf die Stadt.
Atelier du Graff, 3eme edition
Aéro, Anna Conda, Aspire, Kaldea, Kalouf, Mister Copy, Nikita, Palval, Retro, Sema Lao, Smug und Sweo. Zwölf Artists kamen 2022 nach Calais. Von ihnen kann ich hier neun präsentieren.
Machen wirs mal alphabethisch. Aéro, dem ich erstmalig 2021 in Leeuwarden begegnete, schuf nun schon das zweite Mural in Calais.
Anna Conda malt einen „Curandero“, was soviel bedeutet wie „Heiler“ mit einem „Hang“, einem metallenen Instrument, das sehr schöne melodische und perkussive Töne von sich gibt.
Von Aspire stammt der Eisvogel auf dem Rettungsring. Der Eisvogel brütet sogar noch nördlicher als an der Opalküste Frankreichs, habe ich gelesen.
Kaldea, aka Kaldea Nakajima, zauberte dieses farbenprächtige Mural mit dem Titel “ Xiăo Mū Shī“. Eine junge Frau die einen Fo-Löwen-Hut trägt, fungiert hier als Wächterin wie in der alten chinesischen Tradition die Fo-Löwen, die Wächterlöwen, die am Eingang wichtiger Gebäude oder Anlagen stehen. Dort bewachen und schützen sie. Die junge Frau hier wird begleitet durch ihren kleinen Panda und sie schlürft lässig ihren Cocktail-das mag an den zu Ende gehenden Sommer am Meer erinnern. Sie wacht am Stadteingang über die City.
Kalouf
Kalouf schuf den orangeroten Orang-Utan mit dem Titel „L´enflamé“. Er spielt mit diesem 20 Meter hohen Mural auf die Waldbrände an, die nicht nur die Tiere, wie z.B. diesen Affen töten, sondern enorme Auswirkungen auf das Klima haben und bei denen die Feuerwehrleute, die die Brände zu bekämpfen versuchen, besonderen Gefahren ausgesetzt sind.
Nikita und Sweo
Den aufmerksam lesenden mag vielleicht auffallen, dass das Mural von Mister Copy leider fehlt. Sorry. Dafür zeige ich dieses dreidimensionale Mural von Nikita und Sweo. Um die richtige Position zum Fotografieren zu finden, gibt es auf dem Boden extra eine Markierung. Von hier aus gibt es den perfekten Blick. Nikita & Sweo sind auch für ihre 3-D-Malerei auf dem Boden bekannt. Von diesen Gemälden gab es 2022 mehrere im Stadtzentrum.
Palval
Andreii Plaval mit seinem „Digital Heron“, einem weitern Vogelmotiv, was für Palval typisch ist. Dieser Reiher scheint sich gerade in die Lüfte schwingen zu wollen.
Sema Lao
Retro überspringen wir und kommen zu Sema Lao. Sie malt hier an die Wand einer Grundschule die „Princess“, die kleine Jeanne d’Arc des Nonkonformismus und sagt dazu auf Instagram: „Soyez cet autre, cet autre tellement insoumis et irrespectueux des normes qu’il affecte les piliers de leur dogmatisme.“ Grob ins Deutsche übersetzt bedeutet das soviel wie: „Sei dieser Andere, dieser Andere, der so rebellisch und respektlos gegenüber Normen ist, dass es die Säulen ihres Dogmatismus einreißt“.
Smug
Zu guter Letzt für das Jahr 2022 hat sich Smug nahe der Strandpromenade platziert. Als ich gerade mit dem Fotoapparat um die Ecke bog, traf ich auf einen älteren Mann, der eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Flaschen in den Glascontainer brachte. Das passte frappierend! Smug zeichnet auch hier wieder ein extrem ausdrucksstarkes Portrait und ich bin begeistert von der dezenten Farbauswahl. Er scheint wie im Nebel zu trinken, was der Herr rechts hoffentlich nicht tut.
2023, Atelier du Graff 3. Edition
In diesem Jahr 2023 waren von Juli bis August wieder international bekannte Artists zum Street Art Festival nach Calais eingeladen. Mit dabei waren Sweo, Gomad, Nikita, JDL, Insane, Scaf, Abyss, Kitsune, Bust the Drip, Le Mec Blaze, Horor und Eaj.
Jetzt gehe ich mal nach meinem Geschmack vor.
Kitsune und Insane
Ich kann mich kaum entscheiden: die Belgierin Kitsune, aka Jolien De Waele, ließ sich durch den Spielplatz an dem dieses Mural prangt von ihrer Kindheit inspirieren. Dazu gehört Pokémon-Gelb, die Farbe ihres Game-Boys und Pikachu.
Ebenso spannend ist dieses Portrait von Insane 51 mit diesem 3-D-Effekt, wie wir es von ihm kennen. In Zukunft plane ich immer eine 3D-Brille mitzunehmen, wenn Insane zu sehen ist!
JDL
Judith de Leeuw, aka JDL, zauberte in diesem Jahr ihr Mural mit dem Titel „His outline in your shadow“ an die Wand. Ich hatte bislang letztes Jahr in Heerlen ein Mural und vor drei Jahren in Vitry-sur-Seine das Vergnügen Arbeiten von Judith zu sehen. Ihr Stil hat sich seit dem verändert.
Bust the drip
Bust the Drip, aka Alexis Bust Stephens, platzierte sein „Homomotus tribu #2“ passend an die Seite des BCMO – Ballet Contemporain des Mers d’Opale – Pôle Chorégraphique de Calais – dem Institut für zeitgenössischen Tanz. Die geschwungene Mauer gibt Bust die Möglichkeit eine eigene Choreographie an die Wand zu bringen.
Gomad und Horor
Gomad, aka Marcus Debie, schuf in vier Tagen „Violets Are Blue“ und Horor einen weiteren Vogel in Calais. Eigentlich liebe ich Vögel in der freien Natur und weniger als Bild-hier mache ich eine Ausnahme. Auch die Wand und das Umfeld begünstigen das. Cool!
Tierisch
Es geht tierisch weiter: Scaf_oner, Le Mec Blasé, das Duo Sebastien Sweo& Nikita, ABYS und Eaj mit einem Beitrags zum „Dogzlife Project“. Das sieht nach viel Spaß bei der Arbeit aus!
Dies und Das
Agathe Verschaffel hat ihre besondere Art des Upcyclings entwickelt. Dieses Gemälde ist über einem Supermarkteingang platziert und ganz schön groß. Klein hingegen ist die kleine „Ganga“ von Kalá eines der wenigen Paste-ups, das ich in Calais entdeckt habe. Na, und wann Otto Schade in Calais war, konnte ich nicht herausfinden, aber ich bin sehr erfreut diese kleine Arbeit von ihm hier zu finden. Es ist nicht das erste Mal, das dieses Stencil auftaucht. Sehr schön!
Graffiti
Am Blériot-Plage, von dem oben schon mal die Rede war, befinden sich unendlich viele Graffiti und einige Stencils von No one an den Bunkeranlagen. Hier nur eine kleine Auswahl, die ich unbedingt sehenswert finde. Die Artists sind mir leider unbekannt.
Titel: Syro 50°57’37.59″ N 1°49’6.888″ E
Karte: veröffentlicht bei Google, My Maps „Le Street Art á Calais“